von Dr. Reinhold Weicker, Paderborn

Vorbemerkung

Das Thema „Bibel und HomosexualitĂ€t” wird hĂ€ufig nur unter einem etwas eingeengten Blickwinkel gesehen: Einige Stellen der Bibel werden oft zitiert, wobei die einen argumentieren „Da liest man doch ganz klar, dass homosexuelles Tun verurteilt wird”, wĂ€hrend andere argumentieren, dass den biblischen Autoren HomosexualitĂ€t, wie wir sie heute sehen, als PrĂ€gung des Menschen, ganz unbekannt war und dass deshalb diese Stellen nicht einfach wörtlich als Verurteilung der HomosexualitĂ€t verstanden werden dĂŒrfen.

Mehrere Texte, die sich mit dem Thema „Bibel und HomosexualitĂ€t” auseinandersetzen, haben diesen „verteidigenden” Charakter. Ähnliches gilt fĂŒr mehrere Texte, die von Fachtheologen stammen oder auch von offiziellen kirchlichen Stellen herausgegeben wurden. So gut und nötig diese Texte sind, in denen beschrieben wird, wie die von Konservativen oft zitierten Stellen nicht zu verstehen sind, kommt ein Aspekt dabei doch oft zu kurz, nĂ€mlich die Frage: Gibt es nicht auch Abschnitte in der Bibel, bei denen Schwule und Lesben ihre Situation, oder zumindest eine der ihrigen Ă€hnliche Situation wiederfinden können? Also Bibelstellen, aus denen Homosexuelle Ermutigung fĂŒr ihr Leben speziell als Schwule und Lesben ziehen können? Dieser Frage soll in dem folgenden Text nachgegangen werden.

Noch mehr als fĂŒr andere Aussagen im Bereich „Bibel und HomosexualitĂ€t” gilt hier, dass es stark von der persönlichen „Theologie”, der eigenen Lese-Erfahrung mit biblischen und anderen Texten abhĂ€ngt, zu welchen Folgerungen man kommt. Es soll deshalb explizit gesagt werden, dass der folgende Text nicht ein offizielles Papier der HuK, sondern eine eher persönliche Äußerung ist. Allerdings stand nicht die persönliche Frage „Welche Bibelstellen sind mir besonders wichtig?” im Vordergrund (hier wĂ€ren die Antworten noch subjektiver und unterschiedlicher gewesen), sondern speziell die Frage nach biblischen Zeugnissen, die besonders fĂŒr Schwule und Lesben relevant sein können. Der Text ist die ĂŒberarbeitete Fassung eines Referats bei einem Treffen der HuK-Regionalgruppe Paderborn (geschrieben Oktober 2005, noch einmal geringfĂŒgig ĂŒberarbeitet April 2007).

 

Was hier nicht behandelt werden soll: Die „Negativ-Stellen”

Es gibt eine bekannte Anzahl von Bibelstellen, die in Auseinandersetzungen immer wieder zitiert werden. Die kritische Auseinandersetzung mit einer naiv-verbalen Auslegung dieser Stellen bildet einen Großteil der Literatur, die unter „Bibel und HomosexualitĂ€t” bekannt ist.
Es geht dabei meist um

  • Genesis (1. Mose) 19,4–13: Die Sodom-ErzĂ€hlung, in der von einer versuchten Vergewaltigung an (mĂ€nnlichen) GĂ€sten des Lot berichtet wird
  • Leviticus (3. Mose) 18,22 und 20,13: „ ... nicht bei einem Manne liegen wie bei einer Frau ...” (alle Bibelzitate, wenn nicht anders angegeben, nach der 1984 revidierten Luther-Übersetzung)
  • Römer 1,18–27: „ ... verließen die MĂ€nner den natĂŒrlichen Verkehr mit der Frau ...”
  • 1. Kor. 6,9–10: „ ... Lustknaben ... KnabenschĂ€nder ...”

Auf einen kurzen Nenner gebracht, ist das Fazit der apologetischen (verteidigenden) Literatur: Bei diesen Bibelstellen geht es nicht um HomosexualitĂ€t, um homosexuelle Liebe im heutigen Sinn. Das ist zwar richtig, aber doch etwas unbefriedigend: Ist denn die Abwehr einer falschen Bibelinterpretation, einer naiv-verbalen Auslegung das Einzige, was es zum Thema „Bibel und Homosexuelle” zu sagen gibt? Hier will ich stattdessen der Frage nachgehen:

 

Was bleibt an positiven Aussagen, bei denen Schwule und Lesben sich wiederfinden können?

Eine denkbare Antwort wĂ€re: Nichts, absichtlich nichts. BegrĂŒndungen könnten sein:

  • Auf den Unterschied Homo/Hetero kommt es doch gar nicht an.  
    „Die erste Gefahr ist, dass wir das Besondere der HomosexualitĂ€t verkennen. Das ist auf zwei Arten möglich: zum einen so, dass wir das Geschlecht des gesuchten oder geliebten Partners als unwichtig erachten. Wichtig wĂ€re dann nur, dass ein Mensch den anderen liebt, weil es nicht gut ist, dass der Mensch alleine sei. HomosexualitĂ€t und HeterosexualitĂ€t wĂ€ren dann einfach dasselbe. Die tatsĂ€chlich bestehenden Unterschiede wĂŒrden dann mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. Mit diesem Ansatz – so nett er auch gemeint ist – wird man nie verstehen, warum Schwulen in manchen Gemeinden die Teilnahme am Abendmahl verwehrt wird. Mit ihm ĂŒbersieht man, dass Homos und Heteros historisch in der Kirche unterschiedliche Wege gegangen sind. Übrigens wird der, der Homos und Heteros als dasselbe ansieht, niemals dahinter kommen, wie beide ‚Parteien’ zu einem besseren VerstĂ€ndnis des Bekenntnisses der Kirche beitragen können.” ([2], S. 17).  
  • Wir sind doch ohnehin alle SĂŒnder.
     
    Dieses Argument ist besonders bei pietistisch-evangelikalen geprĂ€gten Gruppen beliebt. Auch wenn der einzelne Vertreter es als Entgegenkommen oder positiv meinen mag, hat es doch sofort ein „GschmĂ€ckle”: Wenn es auch richtig ist, dass es im heterosexuellen Bereich Scheidungen, unglĂŒckliche Ehen, EhebrĂŒche und Selbstsucht gibt, so wird doch der Vertreter dieses Arguments eine „richtige”, in geordneten Bahnen laufende heterosexuelle Partnerschaft an sich nicht fĂŒr SĂŒnde halten - viele Eheleute wĂ€ren da mit Recht empört. Bei Schwulen und Lesben dagegen wird allein die Tatsache, dass sie ihre sexuelle Orientierung nicht unterdrĂŒcken, sondern praktizieren, als SĂŒnde betrachtet â€“ ganz gleich, wie die sonstigen UmstĂ€nde sein mögen. Die angebliche Solidarisierung unter dem Motto „Wir sind doch alle SĂŒnder”, das allgemein und abstrakt seine Berechtigung haben mag, entpuppt sich bei nĂ€herem Hinsehen doch als Diskriminierung. (vgl. [2], S. 17/18)

Aber auch sonst ist diese Antwort unbefriedigend. Es gibt Gegenbeispiele:

  • Feministische Theologie: Bei ihr geht es nicht darum, die unbestreitbar patriarchalische Tendenz vieler biblischer Autoren zu leugnen, sondern darum, dass man den Versuch macht, explizit einmal die Bibel mit den Augen einer Frau zu lesen, und dabei auch Texte auszugraben, die sonst vielleicht in Vergessenheit geraten wĂŒrden.  
  • Impulse aus der Befreiungsbewegung von Schwarzen: Vor allem durch die Musik der „Negro Spirituals” ist vielen auch bei uns gelĂ€ufig, dass die lange Zeit unterdrĂŒckten Schwarzen in den USA, die Sklaven auf den Plantagen der SĂŒdstaaten, ihr Schicksal in der UnterdrĂŒckung des Volkes Israel in Ägypten vorgezeichnet fanden, dass sie aus diesen biblischen ErzĂ€hlungen Hoffnung und Kraft schöpften. Brouwer und Hirs charakterisieren deren Beitrag so:
    „Schwarze entlehnen ihr Recht, in der Gemeinde zu sprechen, nicht ihrer Anzahl von Hautpigmenten, also nicht aus ihren angeborenen QualitĂ€ten. Sie entnehmen ihr Recht zu sprechen der Tatsache, dass nur sie erzĂ€hlen können, wie weiße Christen auf schwarze reagieren. Nicht die Anzahl von Hautpigmenten ist in der Gemeinde der Diskussionspunkt, sondern dass es Menschen gibt, die auf Grund ihrer weißen Haut das Recht ableiten, aus Negern Sklaven zu machen.” ([2], S. 19)

Beide Strömungen haben der Theologie wichtige Impulse gegeben. Also machen auch wir uns auf die Suche: Wo finden wir uns wieder?

 

Was manchmal genannt wird, was aber eher kritisch einzuschÀtzen ist

Manche behaupten: „Paulus war schwul”: Dies knĂŒpft ĂŒblicherweise an den „Pfahl im Fleisch” an, von dem Paulus in 2. Kor. 12,7 spricht:

Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht ĂŒberhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nĂ€mlich des Satans Engel, der mich mit FĂ€usten schlagen soll, damit ich mich nicht ĂŒberhebe.

Könnte es sein, dass er schwul war und dass seine heftige Abwehr gegen homosexuelles Verhalten und gegen SexualitĂ€t allgemein (Paulus meinte allgemein, es sei besser, keine SexualitĂ€t zu praktizieren; siehe etwa 1. Kor. 7,1) einer VerdrĂ€ngungshaltung entsprang? Andererseits: Eine solche Interpretation ist recht spekulativ, und es gibt auch andere Interpretationen zu dem „Pfahl”: Epilepsie? Kurzsichtigkeit?

Eine Außenseiter-These ist: „Jesus war schwul”. Diese These wird von manchen vertreten, z.B. von dem Oldenburger Schriftsteller Klaus Dede in seinem auch im Internet angepriesenen Buch Jesus - schwul?. Im Klappentext zum Buch heißt es plakativ:
„Die Pastoren wissen es seit eh und je. Manche GlĂ€ubige ahnen es. Klaus Dede sagt es: Jesus war schwul”
Im Einzelnen macht der Autor (der sich selbst als Atheist bezeichnet) sich die platte Interpretation „Jesus war schwul” möglicherweise doch nicht zu eigen. Die These wird begrĂŒndet u. a. mit dem Bericht von dem JĂŒnger, „den Jesus lieb hatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu” (Joh. 13,23), oder mit der Lazarus-ErzĂ€hlung (Joh. 11, vor allem Vers 36): „Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt”. Dazu gibt es auch eine Stelle aus dem „geheimen Markus-Evangelium” (in [1], S. 926–927, datiert auf 130 n. Chr., ĂŒberliefert aber erst im Jahr 1646), die eine solche Interpretation suggeriert.

Andererseits wurde bei Jesus auch ĂŒber „Frauengeschichten” spekuliert, z. B. ĂŒber eine Liebe zu Maria Magdalena. Er lĂ€sst sich von einer Frau (Maria, Schwester der Martha) mit einer teuren Salbe salben (Joh. 12,1–8). Die einzige seriöse und in unserem Zusammenhang auch nicht unwichtige Feststellung ist aber wohl die, dass er vor BerĂŒhrungen nicht zurĂŒckschreckte, auch wenn es BerĂŒhrungen mit Außenseitern waren, die von den auf Reinheit bedachten Zeitgenossen eher gemieden wurden.

Zu Jesus als „Privatperson” muss man aber wohl sagen: Wenn Jesus in physischer Hinsicht (Gestalt, Barttracht) oder in seinem Geschlechtsleben (ĂŒber das im Neuen Testament nichts ĂŒberliefert ist) von dem „normalen” Bild eines wandernden Rabbi abgewichen wĂ€re, hĂ€tten dies seine Gegner vermutlich als Argument gegen ihn verwendet. Weder im Neuen Testament noch in zeitgenössischer antichristlicher Literatur ist etwas in dieser Richtung bekannt. Jesus war also wohl „normal”, was immer das heißt. Über sein Sexualleben (wenn er eines hatte) ist nichts bekannt.

In der Bibel steht insgesamt wenig ĂŒber Erotik, ZĂ€rtlichkeit, Liebe mit sexuell / erotischer Komponente, auch im heterosexuellen Bereich nicht. Ausnahmen sind:

  • Kinder haben, Nachkommen als Zeichen des Segens Gottes (Abraham u. a.)
  • Das Hohelied der Liebe: Dort findet sich viel Erotik, interessanterweise ist von Ehe nicht die Rede. Aber es ist unzweideutig Erotik zwischen Mann und Frau.

Die Welt Israels war umgeben von Kulturen, in denen Erotik eine große Rolle spielte, auch religiös. Das könnte zu einer Haltung beigetragen haben „So sollt ihr nicht sein, das tun die Heiden”. Angesichts dieser ZurĂŒckhaltung der biblischen Autoren ist aber doch interessant, dass es trotzdem einige wesentliche ErzĂ€hlungen gibt, bei denen man als Schwuler, als Lesbe genauer hinsehen sollte.

 

Liebe zwischen MĂ€nnern: David und Jonathan

Die Freundschaft, ja Liebe zwischen David und Jonathan, dem Sohn von DavĂ­ds VorgĂ€nger, Auch-Liebhaber, Konkurrenten und Verfolger Saul, ist vielen bekannt. Sehr bekannt ist die Klage Davids ĂŒber Jonathans Tod, in der der Satz vorkommt

Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonatan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist. (2. Samuel 1,26).

Nach den beiden ist sogar die französische Gruppe benannt, die dort der HuK entspricht: „David et Jonathan”. Die konservativen Anti-Schwulen, denen es ein Graus wĂ€re, wenn in der Bibel Gedanken an eine erotische Liebe zwischen MĂ€nnern vorkommen, sagen sofort: „Ja, das war eine echte Freundschaft zwischen MĂ€nnern, das hat aber mit Erotik und SexualitĂ€t nichts zu tun.”

In der Tat ist von SexualitĂ€t im engeren Sinn nicht die Rede, von GefĂŒhlen und damit von Erotik zwischen MĂ€nnern aber doch sehr viel: Einige der relativ breit ausgemalten Einzelheiten aus der Freundschaft zwischen David und Jonathan (z.B. 1. Samuel 20, vor allem V. 17: „ ... er hatte ihn so lieb wie sein eigenes Herz”, Verabredung auf dem Feld) weisen in der Tat auf eine erotische Komponente, auf intensive GefĂŒhle zwischen den beiden hin. Und eigentlich nur als Vorwurf des sexuellen Vergehens kann der Satz von Saul, dem enttĂ€uschten Auch-Liebhaber Davids, gedeutet werden, wenn er zu seinem Sohn Jonathan sagt:

Du Sohn einer ehrlosen Mutter! Ich weiß sehr wohl, daß du den Sohn Isais erkoren hast, dir und deiner Mutter, die dich geboren hat, zur Schande! (1. Samuel 20,30)

Eine andere, wörtlichere Übersetzung schreibt „ ... zur Schande der BlĂ¶ĂŸe deiner Mutter” â€“ ein Ausdruck, der öfters bei sexuellen Vergehen benutzt wird. Der biblische ErzĂ€hler hĂ€lt aber zu Jonathan und zu David:

Denn er war bekĂŒmmert um David, und daß ihm sein Vater solchen Schimpf antat (1. Sam. 20,34)

Wir kennen natĂŒrlich auch die „Frauengeschichten”, die ĂŒber David erzĂ€hlt werden, u. a. die Geschichte seines Ehebruchs mit Bathseba und, damit verbunden, die „Beseitigung” ihres Mannes Uria, das klassische Beispiel fĂŒr das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen” im Alten Testament (2. Samuel 11). Wir könnten mit heutigen Begriffen David vielleicht als bisexuell bezeichnen â€“ aber wird die Anwendung solcher Kategorien aus spĂ€terer Zeit ihm gerecht?

Die ErzĂ€hlungen ĂŒber David und Jonathan werden von verschiedenen Theologen unterschiedlich eingeschĂ€tzt. Brouwer und Hirs, obwohl bewusst schwule Theologen, spielen sie eher herunter:

„Wir können uns ein wenig an der Freundschaft zwischen David und Jonathan weiden oder vom JĂŒnger, den Jesus liebte, trĂ€umen â€“ aber das ist eine Ă€ußerst schmale Grundlage”. ([2], S. 53).

Schroer und Staubli dagegen bekrÀftigen ihre Interpretation in einem neueren Artikel noch einmal:

„Viel wichtiger ist es, mit positiven Anleihen in der Bibel die Grundlagen fĂŒr eine erotische Lebenskultur, die gleichgeschlechtlich Liebend einschließt, mitzugestalten. ... Biblische Texte werden in dieser Lesart nicht mehr apologetisch gegen die vereinnahmende heterosexistische Lesart verteidigt, sondern mit Queer-Augen gelesen, so daß es den HörerInnen manchmal wie Schuppen von der Augen fĂ€llt” ([4], S. 181).

Ich neige inzwischen mehr zu der Interpretation von Schroer und Staubli: Die ErzĂ€hlungen in den Kapiteln 16, 18 und 20 im ersten Samuelbuch und in Kapitel 1 des 2. Samuelbuches (Man lese sie einmal vollstĂ€ndig!) sind einfach zu eindringlich, als dass man sie als „Na ja, ist halt eine enge Freundschaft” klein-interpretieren könnte.

Wie die Liebesgeschichte zwischen David und Jonathan auch fĂŒr Gemeinden allgemein, nicht nur speziell fĂŒr Schule und Lesben, vermittelt werden kann, zeigt eine Predigt des HuK-Mitglieds Folko Habbe aus einer Predigtreihe „Liebespaare in der Bibel”.

 

Liebe zwischen Frauen: Ruth und Naemi

Die Geschichte von Ruth und Naemi, im Buch Ruth erzĂ€hlt, wird gern zitiert, weil hier eine Frau zu einer anderen sagt „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen” (Ruth 1,16–17); dieser Satz wird oft als Trauspruch gewĂ€hlt. Ist es also das ideale Motto fĂŒr eine Partnerschaftssegnung fĂŒr Lesben? Einerseits spricht der Text klar von den Rollen der beiden Frauen in der Gesellschaft: Sie sind Schwiegermutter (Naemi) und Schwiegertochter (Ruth). Und im Buch Ruth, Kap. 2–4, wird auch geschildert, wie Ruth und ein Mann (Boas, ein entfernter Verwandter der Naemi) einander kennen und schĂ€tzen lernen und schließlich heiraten (Der spĂ€tere König David ist ein Enkel der beiden). Andererseits bleibt doch festzuhalten: Das, was Boas und seine Leute an Ruth so bewundernswert finden, ist ihre Treue und Zuneigung zu Naemi. Erotische Anspielungen wie bei David und Jonathan fehlen hier zwar; die gegenseitige Zuneigung und Treue wird aber besonders hervorgehoben.

 

Eine „sexuelle Minderheit” in der Bibel: Eunuchen, Entmannte

Die „Verschnittenen” (Luther-Übersetzung), also die Entmannten, die wegen einer Verletzung, wegen einer Missbildung oder einer Krankheit nicht zur Zeugung von Nachkommen fĂ€hig sind, wurden einmal als „die sexuelle Minderheit der Bibel” bezeichnet. Von ihnen ist im Alten Testament an zwei interessanten (und widersprĂŒchlichen) Stellen die Rede:

Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des HERRN kommen (5. Mose 23,2)

Dann aber steht beim zweiten (oder dritten?) Jesaja:

Denn so spricht der HERR: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten und erwĂ€hlen, was mir wohl gefĂ€llt, und an meinem Bund festhalten, denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben; der besser ist als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll. (Jes. 56,4–5)

Wir sehen eine Entwicklung in der Frage „Wer kann zur Gemeinde gehören?” Die damalige traditionelle Auffassung, die noch weit bis in unsere Zeit hinein ihre Auswirkungen hatte, war „Viele Kinder zu haben ist das Zeichen des Segens Gottes”. Auch im Neuen Testament noch, in der ErzĂ€hlung von der Geburt des Johannes (Lukas 1), schimmert diese Auffassung durch: Keine Kinder zu haben ist eine Strafe Gottes. DemgegenĂŒber sind die SĂ€tze aus dem Jesajabuch revolutionĂ€r: Auch die Kinderlosen, die, die gar nicht zu Nachkommenschaft fĂ€hig sind, sollen „einen ewigen Namen” bekommen.

Von Jesus sind an mehreren Stellen schroffe SĂ€tze ĂŒber die traditionelle Familie ĂŒberliefert. Im Markus-Evangelium wird berichtet:

Und es kamen seine Mutter und seine BrĂŒder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine BrĂŒder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine BrĂŒder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine BrĂŒder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter (Mt. 3,31-35)

Dem zögernden Nachfolger, der zunÀchst seinen Vater begraben will, sagt er:

Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben! (Mt. 8,22)

Dies passt so gar nicht zur traditionellen „Familien-Ideologie” der Kirchen: Ihm war das Offensein fĂŒr Gott, das „Reich Gottes”, wichtiger. Und dann gibt es die folgenden, schwierig zu interpretieren SĂ€tze:

Er sprach aber zu ihnen: Dies Wort fassen nicht alle, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn einige sind von Geburt an zur Ehe unfĂ€hig; andere sind von Menschen zur Ehe unfĂ€hig gemacht; und wieder andere haben sich selbst zur Ehe unfĂ€hig gemacht um des Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse es! (MatthĂ€us 19,11–12)

Könnte er damit auch die „Verschnittenen” gemeint haben? Die ZĂŒricher Bibel ĂŒbersetzt mit „verschnitten”, und das ist auch korrekter: Im Griechischen steht Î”Ï…ÎœÎżÏ…Ï‡ÎżÎč, also Eunuchen = Verschnittene.

Und dann ist an einer wesentlichen Stelle der Apostelgeschichte, als zum ersten Mal ein Nicht-Jude sich taufen lĂ€sst, von einem Eunuchen die Rede (Apg. 8,26–40); die Entwicklung, die bei Jesaja begonnen hat, wird hier fortgesetzt. Die traditionelle Überschrift dieses Abschnitts in Luther-Bibeln hieß „Der KĂ€mmerer aus dem Mohrenland”. Die ZĂŒricher Bibel ist etwas korrekter und schreibt

Und siehe, da war ein Äthiopier, ein Hofbeamter, ein Machthaber der Kandace, der Königin von Äthiopien, der ihre ganze Schatzkammer verwaltete; der war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. (Apg. 8,27)

Hier verschweigt aber auch die ZĂŒricher Bibel, dass im griechischen Text von â€žÎ”Ï…ÎœÎżÏ…Ï‡ÎżÏ‚â€ die Rede ist, also wieder von einem Eunuchen. (Wenn die Herrscherin eine Frau ist, oder als Aufseher ĂŒber einen Harem, beauftragte man gern Eunuchen).

Ich will nicht so weit gehen wie ich es einmal bei christlichen Schwulen in den USA gelesen habe: Dort habe ich eine Interpretation angetroffen, die auf der Basis von Texten des Codex Hamurabi (Assyrisches Reich) argumentierte, dass mit „Eunuchen” in Wirklichkeit solche gemeint seien, die sich zu Frauen nicht hingezogen fĂŒhlen, also „Schwule” in heutiger Terminologie. Ich glaube, dies wĂ€re fĂŒr die biblischen Stellen eine nicht korrekte Interpretation.

Trotzdem haben diese Aussagen und Berichte ĂŒber Eunuchen, ĂŒber „Verschnittene” fĂŒr unsere Situation durchaus eine Bedeutung. Denn wenn wir die ĂŒbliche amtskirchliche (vor allem römisch-katholische) Argumentation von der „Schöpfungsordnung” betrachten, so lĂ€uft sie auf die Aussage hinaus: „HomosexualitĂ€t ist defizitĂ€r, weil aus einer homosexuellen Begegnung keine Kinder entstehen können”. Dasselbe gilt auch fĂŒr Eunuchen, auch sie können keine Kinder bekommen. In der Gemeinde, wie sie Jesaja sieht und wie sie dann im Neuen Testament gezeichnet wird, haben sie aber doch ihren Platz. Zusammenfassend gilt:

  • Schon im Alten Testament, bei Jesaja, wird die „Nachkommen- und Familien-Ideologie” von einem der Propheten relativiert, trotz der sonst vorherrschenden Sicht „Kinder sind ein Segen” (was ja auch nicht falsch ist).
  • Jesus relativiert an mehreren Stellen den traditionellen Vorrang der leiblichen Familie: Selbst der eigenen Mutter gegenĂŒber kann er manchmal sehr schroff sein. (M. 3,31–35)
  • Die Gemeindebildung unter den „Heiden” beginnt mit einem Eunuchen.

Zusammen mit der Tatsache, dass Jesus sich oft gerade an damals ausgegrenzte Minderheiten wandte, scheint mir das sehr wichtig zu sein.

 

Die Bibel mit Queer-Augen gelesen: Exodus, Coming-Out

Eine andere ErzĂ€hlung des AT wird von schwulen Theologen gern herangezogen, die Exodus-ErzĂ€hlung (Auszug aus Ägypten, trotz der Unsicherheit der Zukunft, in die sie Gott fĂŒhrt). Sie ist eine der Ă€ltesten und zentralsten ErzĂ€hlungen des AT (Ă€lter als die Schöpfungsgeschichte, hörte ich einmal), und grundlegend fĂŒr das „Glaubensbekenntnis” des alten Israel (5. Mose 26,1–11 als Worte beim Erntedank, 5. Mose 6,20–24 als Kurzfassung in der Familie):

Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das fĂŒr Ermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR fĂŒhrte uns aus Ägypten mit mĂ€chtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen und fĂŒhrte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern VĂ€tern geschworen hatte. Und der HERR hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, daß wir den HERRN, unsern Gott, fĂŒrchten, auf daß es uns wohl gehe unser Leben lang, so wie es heute ist. (5. Mose 6,20–24)

Beim traditionellen Seder-Mahl (Passah-Fest) wird ein Ă€hnlicher Dialog in jĂŒdischen Familien auch heute noch als Ritual wiederholt.

Die Schwarzen in den USA haben die Geschichte von Israel in Ägypten als Beschreibung ihres Zustands, ihrer UnterdrĂŒckung und Befreiung verstanden (vgl. die Texte vieler Spirituals). Ähnlich vergleichen schwule Theologen die Exodus-ErzĂ€hlung mit dem „Coming-Out” eines Schwulen: (Vermeintliche) Geborgenheit in der (heterosexuell dominierten) Welt, von der sie merken, dass sie in einem wesentlichen Punkt nicht unsere Welt ist. Zu den beidem Erfahrungen

  • Exodus-Erfahrung des alten Israel
  • Coming-Out-Erfahrung von Schwulen

meinen Brouwer und Hirs:

„Beide Geschichten sind vergleichbar. ... Können wir uns so einfach mit Sklaven vergleichen? Können wir sagen, dass wir, als wir noch innerhalb der heterosexuellen Ordnung lebten, ein unterdrĂŒcktes Sklavendasein fĂŒhrten? Und wenn ja, können und dĂŒrfen wir dann zudem unseren Ausbruch mit dem Auszug Israels vergleichen?
...
Wir sind nicht die ersten, die die Schrift so lesen. Wir haben dies mehr oder weniger bei den lateinamerikanischen Theologen abgeschaut, die gemeinsam mit dem Volk, dem sie angehören, gegen UnterdrĂŒckung und Ausbeutung kĂ€mpfen. Bei ihnen wird auf vergleichbare Weise Schrift geschrieben und getan.” ([2] (S. 38 f., S. 41)

Nicht alle Schwulen und Lesben haben ein explizites Coming-Out erlebt, bei dem sie sich von einer heterosexuellen Lebensperspektive losreißen mussten. Vielen aber ging es so, und ihnen kann die Exodus-ErzĂ€hlung der Bibel durchaus Kraft schenken.

 

Zusammenfassung

Eine „positive” Interpretation der Bibel speziell aus schwul/lesbischer Sicht kann nicht einfach die Methode nachmachen, einige Bibelstellen herauszupicken, die zu „passen” scheinen. Wenn AnhĂ€nger der These „Die Bibel ist in jedem Satz wörtlich Gottes Wort” das tun,

  • ĂŒbersehen sie den Gesamt-Kontext des biblischen Zeugnisses,
  • vergessen sie das Wort Martin Luthers, dass die Bibel von ihrer Mitte her, dem Zeugnis von Jesus Christus her, auszulegen ist („was Christum treibet”),
  • ignorieren sie die theologische Forschung.

Schwule und Lesben können nicht so „einfach” argumentieren, dem anderen ein Bibelzitat an den Kopf werfen, so wie es uns gegenĂŒber oft getan wird. Ihre Argumentation verlangt mehr grundsĂ€tzliches Nachdenken ĂŒber die Bibel, wobei ein wenig theologische Kenntnisse hilfreich sind (auch fĂŒr „Laien”). Aber ich kann nur Staubli zustimmen, wenn er dazu ermuntert, auch einmal die Bibel „mit Queer-Augen” zu lesen â€“ nicht ausschließlich so, aber ab und zu doch einmal. Dann sehen wir durchaus: Wir finden uns in den Bibel wieder, nicht nur mit unseren allgemein-menschlichen Erfahrungen (das sowieso), sondern auch mit unseren speziellen Erfahrungen als Schwule und Lesben.

 

Literatur

  1. Klaus Berger und Christiane Nord (Herausgeber/Übersetzer/Kommentatoren): Das Neue Testament und frĂŒhchristliche Schriften.
    Insel Verlag, 6. Aufl., 2003, 1413 S.
  2. Rinse Reeling Brouwer und Frans-Joseph Hirs: Die Erlösung unseres Leibes. Schwul-theologische Überlegungen wider natĂŒrliche Theologie.
    Aus dem NiederlĂ€ndischen, 103 Seiten. Erev-Rav-Hefte, Erev-Rav, Verein fĂŒr biblische und politische Bildung, 1995. ISBN3-9803752-2-6
  3. Silvia Schroer / Thomas Staubli: Saul, David und Jonathan â€“ eine Dreiecksgeschichte? Ein Beitrag zu „HomosexualitĂ€t im Ersten Testament”
    Erschienen in „Bibel und Kirche” 1/1996 (Katholisches Bibelwer e.V. Stuttgart. Nachdruck in HuK Info Nr. 118 (Mai/Juni 1996), S. 58–61
  4. Thomas Staubli: Das Erste Testament in der öffentlichen HomosexualitÀtsdebatte.
    Werkstatt Schwule Theologie Nr. 2/2003, S. 171–181