(SĂŒddeutsche Zeitung vom 15.05.2001)

In den USA streiten Psychiater darĂŒber, ob sich Homosexuelle bewusst umorientieren können

Über dem großen Teich tobt der große Streit: Können Homosexuelle freiwillig Heteros werden? EntzĂŒndet hat sich die Debatte bei einem Symposium der American Psychiatric Society (APA) in New Orleans. Dort nĂ€mlich hatte Robert Spitzer von der Columbia University seine neue Studie vorgestellt. „Hochmotivierte” Schwule und Lesben könnten sehr wohl ihre sexuelle Orientierung Ă€ndern, berichtete der Psychiater. 200 Schwule und Lesben hatte er befragt, die ernsthaft heterosexuell werden wollten und dabei um psychiatrische Hilfe gebeten hatten. 66 Prozent der MĂ€nner und 44 Prozent der Frauen sei es schließlich gelungen, zu einem „guten heterosexuellen Funktionieren” zu finden, so das Fazit der unveröffentlichten Studie.

Spitzers These ist Wasser auf die MĂŒhle der „Moral Majority” in den Vereinigten Staaten: religiöse und konservative Gruppen, die HomosexualitĂ€t als SĂŒnde, Krankheit oder Erziehungsfehler verstehen. Vertreter dieser Kreise sind davon ĂŒberzeugt, dass schwule und lesbische Menschen durch Gebete und Seelsorge „geheilt” werden können. Spitzer zĂ€hlte bisher allerdings nicht zu den Sprechern der Moral Majority. Vielmehr war er 1973 maßgeblich am Entschluss der APA beteiligt, HomosexualitĂ€t von der Liste der psychischen Krankheiten zu streichen. Seine nun umstrittene Studie habe er als Skeptiker begonnen, betont Spitzer. Er habe auch niemals jemandem eine „Umerziehungstherapie” angeboten.

Vier Ebenen der SexualitÀt

Dennoch laufen Schwulen- und LesbenverbĂ€nde Sturm gegen die Schlussfolgerungen des Psychiaters. „Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun”, sagte David Elliot von der National Gay and Lesbian Task Force der New York Times. Aber auch Fachleute zweifeln an den Ergebnissen: „Die QualitĂ€t der Studie hĂ€lt den Anforderungen an eine empirische Untersuchung nicht stand”, urteilt Hartmut Bosinski, Sexualmediziner an der UniversitĂ€t Kiel. Zum einen hat Spitzers Team die 200 Probanden nur am Telefon interviewt. In 45 Minuten mussten sie 60 Fragen zu ihrem sexuellen FĂŒhlen und Verhalten beantworten. Zu kurz und nicht persönlich genug, um eine Aussage derartiger Tragweite aus den Daten abzuleiten. Zum anderen sei der Löwenanteil der Teilnehmer aus einschlĂ€gigen Gruppen gewonnen worden: 43 Prozent der Probanden traten ĂŒber „Ex-Gay-Ministries” (Seelsorgedienste konservativer Kirchen) und 23 Prozent ĂŒber die „Nationale Vereinigung fĂŒr Erforschung und Therapie der HomosexualitĂ€t” an Spitzer heran. Organisationen also, die HomosexualitĂ€t bekĂ€mpfen.

Menschen, die ihre sexuelle Orientierung Ă€ndern wollen, gebe es durchaus, berichtet Bosinski. Vier Ebenen mĂŒssten ĂŒbereinstimmen, damit jemand ausschließlich homo- oder heterosexuell sei: Verhalten, Selbstdefinition, Phantasievorstellungen und körperliche Erregbarkeit durch ein Geschlecht. Diese Ebenen könnten aber auch auseinander fallen: Jeder zehnte Mann und jede siebte Frau hat Neigungen fĂŒr beide Geschlechter. Die sexuelle Orientierung sei also nicht schwarz-weiß verteilt, sondern fließend. „Wenn ein Mensch, der sich eher in der Mitte dieses Kontinuums befindet und bisher homosexuell gelebt hat, durch geĂ€nderte moralische Vorstellungen in Schwierigkeiten mit seinem Selbstkonzept kommt, kann er durchaus die homosexuellen GefĂŒhle unterdrĂŒcken”, sagt Bosinski, der Mitautor des ersten deutschen Lehrbuchs fĂŒr Sexualmedizin ist (Urban & Fischer 2001). Ein Mensch, bei dem alle vier Ebenen auf ein Geschlecht ausgerichtet seien, könne seine sexuelle Orientierung aber nicht Ă€ndern, er könne sie nur unterdrĂŒcken â€“ und darunter leiden. „Wir ermutigen unsere Patienten, ihre ganz persönliche Bestimmung zu finden, jenseits von Moralvorstellungen oder familiĂ€rer Erwartung.”

Ob sich HomosexualitĂ€t in HeterosexualitĂ€t umwandeln lĂ€sst, hĂ€lt Bosinski dennoch fĂŒr eine legitime Frage. GefĂ€hrlich sei allerdings, dass sich Spitzers zweifelhafte Ergebnisse instrumentalisieren ließen. „So entsteht wieder der Eindruck, dass es da etwas zu kurieren gĂ€be.” Dass es nichts zu kurieren gibt, scheint eine Studie zweier New Yorker Psychiater zu zeigen, die das Gegenteil von Spitzers Thesen belegt und ebenfalls in New Orleans vorgestellt wurde. Von 200 Probanden erklĂ€rten nur sechs, sie hĂ€tten mit Hilfe ihres Psychiaters eine „heterosexuelle Verschiebung” erlebt. FĂŒr 173 hĂ€tte sich nichts geĂ€ndert, viele empfanden seelischen Schaden, nachdem ihre Therapeuten bis zu 15 Jahre lang vergebliche „Überzeugungsarbeit” geleistet hatten.

Evelyn Hauenstein