Referat von Franz Kaern im Seminar „Trotz allem - Lesben und Schwule in den Kirchen”
im Rahmen der SommeruniversitÀt des Evangelischen Studienwerks e. V. Villigst August 2008

Ich stelle an den Anfang meines Referats folgende These: Die evangelikale Bewegung beschÀftigt sich sehr stark mit dem Thema HomosexualitÀt. Daher ist es wichtig, dass sich Homosexuelle wiederum mit der evangelikalen Bewegung auseinandersetzen.

Drei Assoziationen zum Thema „Evangelikal”

Aber was ist das eigentlich, die evangelikale Bewegung?

Manch einer mag diesbezĂŒglich einige Bilder, Klischees und Situationen vor Augen haben. Hier sind drei Bilder, die in mir beim Nachdenken ĂŒber dieses Referat aufkamen:

  • Ich besuchte ein paar Mal Frank, einen guten Freund, der in Leipzig Theologie studierte und sein Vikariat in einem Vorort von Chemnitz absolvierte, am Ort seines Vikariats, um seine Entwicklung als Pfarrer mitzuverfolgen. Die Gemeinde dort war ĂŒberaus herzlich, inspiriert und familiĂ€r. Die Kirche war immer voll, die Gottesdienste dauerten immer zwei Stunden, ohne aber jemals langweilig zu werden. Der Pfarrer war der Gemeinde auf ansteckende Weise herzlich zugewandt. Es herrschte immer eine fröhliche, enthusiastische AtmosphĂ€re. Jedes Mal gab es Gelegenheiten, jemanden fĂŒr eine beginnende Gemeindearbeit oder fĂŒr ein privates JubilĂ€um zu segnen. Das Leben wurde offenbar gelebt im Bewusstsein, dass es in Gemeinschaft stattfindet. Dass alle tatsĂ€chlich im Sinne einer Gemeinde fĂŒreinander da sein wĂŒrde, dass man Anteil aneinander nahm, dieser Eindruck war sehr stark und durchaus mitreißend, begeisternd. â€“ Aber Frank erzĂ€hlte mir auch von der Kehrseite dieser herzlichen Gemeinschaft: Als er das Vikariat antrat, ging der Pfarrer mit ihm durch den Ort und sagte: „Bei diesem Blumenladen dĂŒrfen sie kaufen, die gehören zu uns. Jener Blumenladen gehört nicht zur Gemeinde, da gehen sie besser nicht hin.” Offenbar gab es klar gezogene Linien zwischen denjenigen, die sich zum Gemeindeleben bekannten, und denjenigen, die dies nicht taten. Die Gemeinde war offenbar eine im Ort abgekapselte eigene Welt.
  • In der Thomaskirche in Leipzig war eine Zeit lang ein amerikanischer Pfarrer zu Gast, der den dortigen lutherischen Gottesdienst mit seiner klaren Liturgie, der ernsthaften Musik, dem Gewicht einer ĂŒberlegten Predigt als sehr wohltuend empfand. Er gestand dies in einer Predigt, in welcher er auf plastische Weise von einigen ihm bekannten Gottesdiensten in amerikanischen Megakirchen erzĂ€hlte, die einen durchgestylten, perfekt inszenierten Event-Charakter aufwiesen. Die allzu kĂŒnstlich zur Schau gestellte enthusiastische Jubel-AtmosphĂ€re dort sei ihm manchmal zuwider, kĂ€me ihm oberflĂ€chlich und unpersönlich vor.
  • Im amerikanischen PrĂ€sidentschaftswahlkampf 2008 stellten sich die beiden Kandidaten in einer dieser US-typischen Mega-Kirchen dem konservativen Wahlvolk, um auf die Fragen des evangelikalen Predigers Rick Warren Rede und Antwort zu stehen. Der amerikanische Wahlkampf kann es sich offenbar nicht leisten, an dieser Bevölkerungsgruppe vorbei zu gehen. Zu groß ist der politische Einfluss, den die evangelikale Bewegung dort besitzt.

Es sind also drei Aspekte, die mir durch diese Beispiele vors Auge treten:

Charismatik
Abschottung
Politischer Einfluss

Man mag eventuell der charismatischen Herzlichkeit, der BegeisterungsfĂ€higkeit etwas Positives abgewinnen können. Und tatsĂ€chlich kann man, wohnt man einem evangelikalen Gottesdienst bei, durchaus von der Lebendigkeit seiner AtmosphĂ€re begeistert sein, kann sich denken: Ja, das ist wahrhaft lebendiger Glaube, der ganz aktiv und erfrischend in das eigene und gemeinschaftliche Leben integriert zu sein scheint. Auf der anderen Seite wirken die Inszenierungen amerikanischer Mega-Gottesdienste oft nur kitschig und hohl, fremd und abstoßend, besonders, wenn ein riesiges Orchester und ein mĂ€chtiger Chor trivialste Filmmusik bombastisch aufgeblasen darbieten, bei der ich ganz klar weiß, dass ich ihr eine Bach-Kantate oder eine vielleicht spröde, aber kĂŒnstlerisch und geistig dicht durchdrungene Motette von Hugo Distler jeder Zeit vorziehe und von diesen mehr ergriffen und persönlich angesprochen werde, da ich zum Nachdenken angeregt und nicht mit billigem WohlfĂŒhlen ĂŒberrumpelt werde. Nun gut, das ist natĂŒrlich Geschmackssache.

Die anderen beiden Assoziationen erscheinen mir aber tatsĂ€chlich bedrohlicher: Sich Abschotten, das Selbstbewusstsein, etwas Besseres zu sein, tiefer zu glauben, nĂ€her an der Wahrheit dran zu sein als andere â€“ und das Netzwerk, welches sich auszubreiten scheint, um mehr und mehr auf die eigene Seite ziehen zu können, in jedem Fall aber politischen Anspruch anmelden und Einfluss nehmen zu können, was in den USA sehr deutlich zu sehen ist.

Manch eine/r denkt sich da, die Evangelikalen wĂ€ren so etwas wie der Fundamentalismus des Christentums. Nachrichten ĂŒber evangelikale Exorzisten, die angeblich besessenen Menschen die DĂ€monen austreiben, oder ĂŒber hasserfĂŒllte Bilder von CSD-Paraden, an deren Rand Plakate hoch gehalten werden, worauf mitunter in drastischer Sprache geschrieben steht, wie sie ĂŒber Homosexuelle denken und wozu sie sich Kraft ihres Glaubens berufen meinen – dies scheint eine solche Vermutung zu unterstĂŒtzen.

Evangelikal ist nicht gleich Evangelikal!

NatĂŒrlich sind dies ExtremfĂ€lle.

Und natĂŒrlich kann man von ihnen nicht auf eine evangelikale Allgemeinheit schließen. Das Thema zeigt sich â€“ wie so viele andere â€“ viel komplexer und differenzierter. „Die evangelikale Bewegung” ist keine homogene Masse, sondern in ihr zeigen sich auch sehr unterschiedliche Gruppen, die manchmal nur einen bestimmten Frömmigkeitsstil reprĂ€sentieren, dem man folgen mag oder nicht, der aber niemandem schadet und dies auch nicht will. Auf der anderen Seite gibt es aber eben auch den Fanatismus, das gefĂ€hrlich ĂŒbersteigerte Sendungsbewusstsein, das sich als Weltenrichter aufspielt und sich selbst â€“ ganz selbstverstĂ€ndlich â€“ auf der richtigen Seite sieht. daran zeigt sich eben doch, wie viel Konfliktpotential im Thema Evangelikalismus steckt. FĂŒr uns ist natĂŒrlich jene Seite evangelikalen Glaubens bedeutsam und herausfordernd, welche sich mit HomosexualitĂ€t beschĂ€ftigt, in uns Homosexuellen ein Feindbild sieht, welches es offensichtlich zu bekĂ€mpfen gilt. Denn das betrifft uns existenziell, und hier ist es wichtig, sich mit der Gegenseite, ihren BeweggrĂŒnden, ihren Argumenten und Vorgehensweisen auseinanderzusetzen, um nicht kalt erwischt zu werden.

Wurzeln der evangelikalen Bewegung

Die evangelikale Bewegung hat verschiedene Wurzeln:

  • Eine davon ist der Pietismus der zweiten HĂ€lfte des 17. Jahrhunderts, der als Reaktion auf die AufklĂ€rung und die damit einher gehende wachsende Verwissenschaftlichung das persönliche VerhĂ€ltnis zu Jesus und Gott in den Mittelpunkt stellte. Philipp Jacob Spener schrieb 1675 die Schrift Pia Desideria (Fromme WĂŒnsche), welche eine Grundlage hierfĂŒr bildete. Hier lag ein zunĂ€chst einmal als positiv zu bewertendes Interesse zugrunde, den Glauben im konkreten Leben zu verankern und nicht durch eine wachsende RationalitĂ€t entzaubern zu lassen. Auch sind soziale Projekte, die daraus entstanden, wie das Waisenhaus-Dorf des August Hermann Francke in Halle/Saale, aus dem die Franckesche Stiftungen hervorgingen, ja eine durchweg rĂŒhmliche Sache. Allerdings lag hier aber eben auch die Gefahr, dem GefĂŒhl gegenĂŒber dem Verstand und dem doch auch manchmal gesunden kritischen Nachfragen zu sehr den Vorzug zu geben.
  • Auch der Anfang des Methodismus durch John Wesley im England der ersten HĂ€lfte des 18. Jahrhunderts ist eine Quelle fĂŒr den Evangelikalismus. Wichtigste Merkmale der methodistischen Kirche sind die Voraussetzung einer bewussten persönlichen Entscheidung zum aktiven Glauben, am besten ausgelöst durch ein Erweckungs- oder Bekehrungserlebnis, sowie der Glaube an die Erlösung des Menschen durch Jesu Kreuz. Von Wesley ging eine Bewegung des „great Awakening”, des großen Erwachens, aus, bei der es zu Massenbekehrungen kam.
  • Auch verschiedene BrĂŒdergemeinschaften wie die Herrnhuter BrĂŒder, die teilweise (nicht alle) heute noch zur evangelikalen Bewegung gehören, fließen in die Geschichte des Evangelikalismus mit ein, insbesondere, was die Vorstellung eines allgemeinen Priestertums aller GlĂ€ubigen, also die latente Ablehnung des ordinierten Pastorenstandes, sowie die UnabhĂ€ngigkeit von Ortsgemeinden anbelangt. Beides wirkte sich auf das missionarische SelbstverstĂ€ndnis evangelikal GlĂ€ubiger aus. Aus der BrĂŒderbewegung ging auch die Elberfelder Bibel hervor, die versuchte, die BibelĂŒbersetzung so nah wie möglich am Original des Urtextes zu orientieren und sie so wenig wie irgend möglich durch theologische Interpretationen beeinflussen zu lassen.
  • Des Weiteren trugen konservative amerikanische Theologen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Entwicklung der Bewegung bei. Sie wandten sich gegen zunehmende Liberalisierungstendenzen. Zu den jĂ€hrlich stattfindenden Niagara Bible Conferences trafen sich zahlreiche Theologen aus den Reihen der Baptisten, der Methodisten, der Anglikaner usw., um eine Gegenbewegung zum theologischen Modernismus zu formieren. Ab 1919 erschien die Buchreihe The Fundamentals. A Testimony to the Truth, welche sich hauptsĂ€chlich gegen die historisch-kritische Bibelexegese wandte.

GrundsÀtze des evangelikalen Glaubens

In der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz, eines Zusammenschlusses der meisten evangelikalen Gruppen, wurden 1864 die wesentlichen Gesichtspunkte des evangelikalen Glaubens formuliert (sie wurden teilweise schon genannt und seien neben weiteren Punkten nochmals zusammengefasst):

  • Bedeutung eines persönlichen Erweckungserlebnisses
  • allgemeines Priestertum der Laien
  • Überzeugung, eine Mission zu haben
  • Überzeugung der grundsĂ€tzlichen Schuldhaftigkeit und ErrettungsbedĂŒrftigkeit des Menschen
  • Anerkennung des stellvertretenden SĂŒhnopfertodes Jesu
  • Wissenschaftsskeptizismus
  • Die Bibel als unhinterfragbares Zentrum des Glaubens

Auf die Punkte, die bisher nicht nÀher erlÀutert wurden, sei nun noch genauer eingegangen:

Ein wesentlicher Kerngedanke des evangelikalen Glaubens ist, dass der Mensch seit Luzifers Fall grundsĂ€tzlich in SĂŒnde verstrickt und daher errettungsbedĂŒrftig sei. Aber alle Versuche des Menschen, Gutes zu tun und die Welt besser zu machen, seien zum Scheitern verurteilt. Nur Jesus sei dazu befĂ€higt, der Welt Rettung und Vollendung zu bringen. Daher ist fĂŒr Evangelikale die Anerkennung des stellvertretenden SĂŒhnopfertods Jesu ein zentraler Punkt des Glaubens (was sie mit vielen anderen Christen verbindet, auch wenn in einigen Teilen der christlichen Kirchen mittlerweile nicht wenige Menschen zu finden sind, die mit der Vorstellung dieses SĂŒhnetods nichts mehr anfangen können und dazu kritisch Stellung beziehen).
Die meisten Evangelikalen Gruppen stehen der Wissenschaft recht skeptisch gegenĂŒber, warnen zumindest vor ungebremsten GrenzĂŒberschreitungen und einer blinden WissenschaftsglĂ€ubigkeit (was, nebenbei gesagt, fĂŒr mein Empfinden nicht völlig verkehrt ist). In jedem Fall sind sie strikt gegen die Akzeptanz von In-Vitro-Fertilisation, SchwangerschaftsabbrĂŒchen, Gentechnologie, Gender-Studies und natĂŒrlich HomosexualitĂ€t. Manche Evangelikale verfechten die biblische Schöpfungstheorie und bemĂŒhen sich darum, diese zumindest als gleichberechtigte Alternative zur Evolutionstheorie im Schulunterricht durchzusetzen. Im Jahr 2006 ist die August-Hermann-Francke-Schule in Gießen bundesweit dadurch bekannt geworden, dass sich ein Lehrer geweigert hat, die Evolutionstheorie zu behandeln, und auf der Lehre des Kreationismus bestand (allerdings gibt es auch Evangelikale, die nach Paulus 3,8 die Schöpfung in sechs Tagen relativieren, denn dort steht Ein Tag vor dem HERRN ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag, woraus sie folgern, dass die Schöpfung 6.000 Jahre gedauert haben muss).

Direkt mit dem Wissenschaftsskeptizismus hĂ€ngt auch das evangelikale BibelverstĂ€ndnis zusammen, welches einen unmittelbaren Zugang zu Gottes Wort propagiert und die Methoden der historisch-kritischen Exegese als wissenschaftliche Entfremdung von der UrsprĂŒnglichkeit des Wortsinnes ansieht. Dazu spĂ€ter mehr.

Evangelikale in Deutschland

Es gibt heute eine Vielzahl von Gruppierungen und Organisationen, die zur evangelikalen Bewegung in Deutschland dazuzurechen sind:

In Gießen finden sich neben der erwĂ€hnten evangelikal ausgerichteten August-Hermann-Francke-Schule auch die Freie Theologische Hochschule und der Sitz des Missionswerkes Campus fĂŒr Christus. Hessen ist ĂŒberhaupt durch evangelikale Gruppen, Organisationen oder Einrichtungen gut vertreten: So hat der Gnadauer Gemeinschaftsverband seinen Sitz in Kassel (ein Dachverband aller deutschen Gemeinschaftsbewegungen), welcher einen Fokus auf der Bibel und der Umsetzung ihrer Botschaft im Alltag richtet.

Aus Wetzlar sendet der Evangeliums-Rundfunk Deutschland e. V. Ebenfalls dort angesiedelt ist die Evangelische Nachrichtenagentur Idea mit ihrem oft homophob agierenden Organ Idea-Spektrum, und ein fĂŒr das Thema HomosexualitĂ€t ebenfalls sehr bedeutsamer Ort ist Reichelsheim im sĂŒdhessischen Odenwald, wo die Offensive Junger Christen (OJC) anzutreffen ist (mit Dependance in Greifswald). Sie gibt die Zeitschrift Salzkorn heraus, in welchem HomosexualitĂ€t hĂ€ufig ErwĂ€hnung findet. Das ist kein Zufall, denn der OJC angeschlossen ist das Deutsche Institut fĂŒr Jugend und Gesellschaft (DIJG) unter der Leitung von Dr. Christl R. Vonholdt, eine der schĂ€rfsten FĂŒrsprecher fĂŒr Konversionstherapien zur „Heilung” von HomosexualitĂ€t. Das vom DIJG herausgegebene Organ Bulletin bietet einen reichhaltigen Einblick in die Gedankenwelt von fundamentalistischen Evangelikalen, die sich HomosexualitĂ€t als liebstes BetĂ€tigungsfeld und Feindbild herausgesucht haben und ihren religiös bedingten Hass darauf durch ihre oftmals krude pseudo-wissenschaftliche Arbeit in ein scheinbar seriöses Gewand kleiden wollen.

In Ahnatal (Nordhessen) sorgt sich das Weiße Kreuz  in einem Konzept von Sexualethik und Seelsorge um „sexualethische Werte, die auf das biblische Menschenbild begrĂŒndet sind.”

Doch nicht nur in Hessen haben evangelikale Einrichtungen in Deutschland ein Zentrum, wobei sie untereinander oft vielfach vernetzt sind. So arbeitet das DIJG eng mit wuestenstrom e. V. zusammen, einer Organisation in Tamm bei Ludwigsburg unter der FĂŒhrung von Markus Hoffmann, welche auf dem amerikanischen Konzept Living Waters aufbaut und ebenfalls die Therapierbarkeit und -bedĂŒrftigkeit von HomosexualitĂ€t propagiert (wenn auch nach außen hin die „Ergebnisoffenheit” der angebotenen Therapien vorgeschĂŒtzt wird. „System-immanente” Äußerungen weisen in eine andere Richtung! Siehe unten).

Der charismatische Prediger Ulrich Parzany, Vorsitzender des Komitees zur Planung und DurchfĂŒhrung von Pro Christ (einer alle 2–3 Jahre an wechselnden Orten stattfindende Missions-Groß-Veranstaltung mit Gottesdiensten, die per Großleinwand in verschiedene angeschlossene Orte ĂŒbertragen werden), war ebenso Vorsitzender des TrĂ€gervereins des evangelikalen Jugend-Kongresses Christival  und ist Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz, die in Bad Blankenburg (ThĂŒringen) unter dem Vorsitz von Hartmut Steeb ihre Zentrale hat. Sie ist der Dachverband evangelikaler Gruppen in Deutschland, ihr fĂŒhlen sich (laut Wikipedia) etwa 1,3 Millionen Menschen zugehörig.

Die Leitung des Christivals hatte 1996 Roland Werner ĂŒbernommen, GeneralsekretĂ€r des deutschen CVJM und Leiter des Christus-Treff in Marburg. Auch er ist ein WortfĂŒhrer beim Thema Therapierung von HomosexualitĂ€t.

Dr. Joachim Cochlovius, Kopf des Gemeindehilfsbundes und Gemeindenetzwerks in Walsrode, hat sich ebenfalls schon mehrfach mit dem Thema HomosexualitĂ€t beschĂ€ftigt (Herr Cochlovius war gar einer der wenigen Evangelikalen, die dazu bereit waren, sich mit der HuK-Arbeitsgruppe Evangelikale und Wir zu einem GesprĂ€ch zu treffen, um gemeinsam ĂŒber das Thema HomosexualitĂ€t zu diskutieren).

Neben Hessen sind die Zentren der evangelikalen Bewegung in Deutschland in Baden WĂŒrttemberg (besonders auf der SchwĂ€bischen Alb) und in Sachsen (Erzgebirge) gelegen.

Evangelikales BibelverstÀndnis

Einen Kernpunkt evangelikalen Glaubens und â€“ in meinen Augen â€“ wohl gleichzeitig dessen grĂ¶ĂŸtes Problem stellt die Frage nach dem BibelverstĂ€ndnis dar.

Schon die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz von 1846, eine Art evangelikales Glaubensbekenntnis, spricht von der „göttlichen Inspiration der heiligen Schrift, ihrer völligen ZuverlĂ€ssigkeit und höchsten AutoritĂ€t in allen Fragen des Glaubens und der LebensfĂŒhrung”. Ein Grundsatz, der sich fĂŒr Evangelikale daraus ableitet, ist die Ablehnung der historisch-kritischen Methode zum VerstĂ€ndnis der Bibel.

Evangelikale GlĂ€ubige zweifeln einen heute herrschenden Relativismus vehement an, der statt dem göttlichen Wort den Menschen mit all seinen widersprĂŒchlichen Lebenserfahrungen zum Maßstab jedes sozialen Denkens und Handelns macht. Sie empfinden sich als unterdrĂŒckt von einer „Diktatur des Relativismus” (wie dies Friedhelm Jung in seinem Buch Was ist evangelikal? [idea-Dokumentation] ausdrĂŒckt). Stattdessen glauben sie an die Absolutheit bestimmter Werte und Wahrheiten, die sie aus der Bibel ableiten.

In der Forderung nach der Unbedingtheit absoluter Aussagen steckt die â€“ durchaus verstĂ€ndliche! â€“ Sehnsucht nach Ordnung im Chaos, nach der Sicherheit der LebensverhĂ€ltnisse in Zeiten, in welchen diese zu entgleiten droht. Und, seien wir ehrlich: Wann gab es schon mal Zeiten, in denen man nicht genĂŒgend Anzeichen dafĂŒr sehen konnte, dass dem menschlichen Leben die Sicherheit abhanden kommt (wenn sie denn jemals da war), dass man sich von UmstĂ€nden oder Ereignissen bedroht fĂŒhlt, die einem den Boden unter den FĂŒĂŸen weg ziehen, sei es ganz persönlich existenziell oder in Form von gesellschaftlichen MissstĂ€nden?

Da ist es durchaus als natĂŒrlich anzusehen, dass man immer wieder nach Halt sucht, geneigt ist, Ideologien oder Dogmen zu folgen, die zu zeigen versprechen, dass nicht alles im Leben kompliziert zu sein braucht, es einfache Wahrheiten gibt, denen man vertrauen kann, die einem Orientierung bieten. Ich denke, dass wesentlich mehr Menschen fĂŒr solche Gedanken empfĂ€nglich sind, ja dass dies sogar einem allgemeinen menschlichen BedĂŒrfnis entspricht. So weit, so gut, so verstĂ€ndlich!

Das Problem ist schlichtweg, dass sich die Bibel dem eigentlich verschließt, solch klare Antworten zu bieten! Nach welchen Kriterien kann man aus ihr als Gesamtheit (nicht aus einzelnen Passagen) heraus Absolutismen formulieren, die wirklich im positiven Sinne allen Menschen zugute kommen? Die Geschichte lehrt, dass eigentlich alle Versuche, solche unumstĂ¶ĂŸlichen Wahrheiten zu installieren, nicht nur gescheitert sind, sondern oft auch großes Leid ĂŒber viele Menschen gebracht haben.

Evangelikale postulieren fĂŒr sich, diese absoluten Wahrheiten aus der Bibel ziehen zu können. Aber auch Evangelikale mĂŒssen gewaltige Verrenkungen anstellen (die dann eben doch Kontextualisierungen vornehmen, welche im Grunde genommen der historisch-kritischen Methode nicht unĂ€hnlich sind), um viele WidersprĂŒche ausschalten oder kleinreden zu können, die die Bibel unausweichlich jedem bereit hĂ€lt, der sie liest. Auch Evangelikale kommen nicht umhin, die Bibel zu interpretieren. Das bringt argumentative Konstruktionen mit sich, die zeigen, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es ist, der Bibel etwas wirklich Absolutes zu entnehmen.

Es gibt laut Jung innerhalb der evangelikalen Bewegung durchaus eine Aufteilung in konservative und progressivere Strömungen, wobei diesen von jenen auch oft vorgeworfen wird, sich zu sehr dem Zeitgeist anzunÀhern und evangelikale GrundsÀtze zu verraten.

Konservative Evangelikale sagen, dass alle Aussagen der Bibel verlÀsslich sind. Wenn es aber ErzÀhlungen der Bibel gibt, in denen ein Verhalten aufgezeigt wird, das menschlichem Empfinden widerspricht, ohne, dass es aber tatsÀchlich durch die Schrift als schlecht gekennzeichnet wird, so hat dies, wie Jung formuliert, folgenden Grund:

„Alles, was in der Bibel steht, ist von Gottes Geist inspiriert und deshalb Gottes Wort. Doch nicht alles, was in der Bibel steht, ist automatisch Gottes Wort im Sinne von Gottes Willen; vielmehr hat Gott manches in sein Wort gesetzt, was uns ausdrĂŒcklich nicht zur Nachahmung empfohlen wird, weil es dem Willen Gottes widerspricht.”

In dieser etwas gewollt wirkenden Konstruktion ist bereits viel Interpretation enthalten, die versucht, mit Aussagen der Bibel umzugehen, welche, vorsichtig formuliert, nicht ohne weiteres unmittelbar als göttliche Wahrheit einleuchten.

Selbst konservative Evangelikale kommen nicht daran vorbei, etwa WidersprĂŒche zwischen Aussagen des Alten und des Neuen Testaments auszuschalten. „Auge um Auge, Zahn um Zahn” heißt es im AT. Jesus lehrt im NT, dass wir unsere Feinde lieben und im Falle, dass uns jemand auf die eine Wange schlĂ€gt, auch die andere hin halten sollen. SĂ€mtliche evangelikale Strömungen sind sich nach Friedhelm Jung darĂŒber einig, dass das AT gegenĂŒber dem NT auf einer vorlĂ€ufigen Offenbarungsstufe steht und dass das NT gegenĂŒber dem AT Vorrang genießt. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Bibel Gottes Wort ist, muss das dann nicht fĂŒr die ganze Bibel gelten? Hat Gott im AT nur geĂŒbt? Oder sind absolute Aussagen Gottes von ihm selbst spĂ€ter relativiert worden, also schon von Grund auf eben nicht absolut?

Progressive Evangelikale gestehen der Bibel durchaus zu, dass sie zwar Wort Gottes sei, aber dennoch IrrtĂŒmer enthalten könne und nicht fehlerlos sei, z. B. wenn sie naturwissenschaftliche PhĂ€nomene berĂŒhrt, die wir heute besser wissen als diejenigen Menschen, die frĂŒher Gottes Wort aufgeschrieben (und vielleicht dabei nicht richtig zugehört?) haben. BerĂŒhmt ist in dieser Hinsicht die biblische Fehlaussage aus dem 3. Buch Mose 11, der Hase sei ein WiederkĂ€uer oder die Fledermaus ein Vogel, was beides biologisch absoluter Unfug ist. Auch halten es manche progressive Evangelikale fĂŒr nötig, dass auch sie nicht an menschenrechtlichen Entwicklungen wie der Emanzipation der Frau vorbeigehen könnten, dass daher biblische Aussagen, in welchen Frauen zum Schweigen in der Gemeinde oder gar zur Unterwerfung unter den Mann verdammt sind, heute keine GĂŒltigkeit mehr besitzen könnten.

Dennoch postulieren auch progressive Evangelikale, dass bestimmte ethisch-moralische Forderungen der Bibel absolut zu verstehen seien, nicht zuletzt diejenigen Stellen, die sich in ihren Augen zweifelsfrei mit HomosexualitÀt beschÀftigen.
Bei allem Absolutheitsanspruch, den Evangelikale immer wieder formulieren, habe ich persönlich noch keine Argumentation von Evangelikalen gehört, die darum herum gekommen wÀre, selektiv vorzugehen und Aussagen der Bibel zu relativieren.
Deshalb warte ich nach wie vor auf eine hinreichende Darlegung, welche Kriterien angelegt werden, um ĂŒberzeigend zu begrĂŒnden, weshalb manche Bibelstellen als absolut gĂŒltig angesehen werden und andere nicht, weshalb auch Evangelikale die Notwendigkeit sehen und anwenden, die eine biblische Aussage in einen historischen Kontext zu stellen und damit fĂŒr unser heutiges Leben zu relativieren, und von der anderen behaupten, man mĂŒsse sie absolut und wortwörtlich verstehen.

Nochmals: So sehr ich auch persönlich den Wunsch nach unumstĂ¶ĂŸlichen Wahrheiten, nach Halt und Schutz bietenden Grenzen nachvollziehen kann, so wenig glaube ich letztlich an die Möglichkeit, etwas als fĂŒr jede/n gleichermaßen gĂŒltig zu formulieren. Alles ist relativ, sagt Einstein.

Und ich denke, dass sich dies auch Evangelikale eingestehen mĂŒssen, statt darauf zu beharren, sie hĂ€tten die Gewissheit, die Wahrheit in Reinform empfangen zu haben und zu verkĂŒndigen.

Warum haben viele Evangelikale solche Probleme mit HomosexualitÀt?

Bleibt die Frage, worin denn nun eigentlich der Grund dafĂŒr liegt, dass sich gerade die evangelikale Bewegung derartig auf das Thema HomosexualitĂ€t eingeschossen hat, dass man manchmal das GefĂŒhl bekommt, als wĂŒrden sie sich tatsĂ€chlich mit keinem anderen Thema beschĂ€ftigen.

Beispielhaft hierfĂŒr ist das Deutsche Institut fĂŒr Jugend und Gesellschaft in Reichelsheim zu nennen, welches durch den Namen zwar universitĂ€r anmutet, aber keinen Ort neutraler wissenschaftlicher Forschung darstellt, sondern der Offensive Junger Christen unterstellt ist und klare evangelikale Ziele verfolgt. Die Leiterin des Instituts, Dr. Christl Vonholdt, gilt als Expertin auf dem Gebiet der HomosexualitĂ€t und der reparativen Konversionstherapien. Sie wurde und wird in dieser Funktion immer wieder in politische Gremien berufen, die ĂŒber Fragen der gesellschaftlichen Stellung homosexueller Menschen zu entscheiden haben. So wurde das Institut auch um Stellungnahmen zum Lebenspartnerschaftsgesetz gebeten und hat bei der politischen Diskussion hierum einiges Gewicht besessen, lieferte viele Argumente fĂŒr diejenigen Parteien, die als damalige Oppositionsparteien das Lebenspartnerschaftsgesetz verhindern wollten.

Das Institut veröffentlicht regelmĂ€ĂŸig Texte, die sich mit HomosexualitĂ€t und ihren Heilungschancen beschĂ€ftigen und lĂ€sst keinen Zweifel daran, dass HomosexualitĂ€t a) geheilt werden kann und b) auch geheilt werden soll (dazu spĂ€ter mehr).

AuffĂ€llig ist tatsĂ€chlich die hohe Frequenz, mit der das Institut sich in seinem Periodikum Bulletin, in Fernsehdiskussionen und in eigenen Buchveröffentlichungen ĂŒber das Thema Ă€ußert. Aber auch in anderen evangelikalen Medien wie der Zeitschrift idea-Spektrum ist HomosexualitĂ€t wie gesagt ein regelmĂ€ĂŸig aufgegriffenes zentrales Thema.

Keine Frage: Evangelikale nehmen das Thema sehr ernst und sehen es als eines ihrer vordringlichsten Aufgabenfelder an. Aber warum eigentlich?

In erster Linie wird eine gesellschaftliche Gefahr heraufbeschworen, der es entgegen zu steuern gilt. Das menschliche Leben könne nur durch die ErfĂŒllung der SexualitĂ€t in der heterosexuellen Zeugung, in der Geborgenheit und FĂŒrsorglichkeit der Familie mit Mutter, Vater und Kindern, bewahrt und weitergegeben werden. NatĂŒrlich ist dies zunĂ€chst unbestreitbar. Und ohne Zweifel bietet die staatlich geförderte Ehe einen gut abgesicherten Rahmen fĂŒr das, was jede Gesellschaft braucht: Nachwuchs.

Ebenso wenig besteht Zweifel darin, dass unsere westliche Gesellschaft und besonders die in Deutschland ein demografisches Problem hat: Es werden seit einiger Zeit zu wenig Kinder geboren, was zu den bekannten Problemen im Zusammenhang mit Rente etc. fĂŒhrt. Das ist eine Tatsache und bringt einige verunsichernde Faktoren mit sich, die zur Destabilisierung der Gesellschaft beitragen, keine Frage!

Das politische Argument, das von evangelikaler Seite gegen gelebte HomosexualitĂ€t und speziell gegen eine staatliche Absicherung homosexueller Partnerschaften angewendet wird, ist zugespitzt, dass von ihrer rechtlichen Anerkennung als einer Lebensform, die vor Diskriminierung geschĂŒtzt werden muss, eine Signalwirkung ausgeht, die zur zunehmenden Homosexualisierung der Gesellschaft fĂŒhrt. Dazu wird immer wieder das Bild einer aggressiven homosexuellen Lobby gezeichnet, welche an nichts anderem interessiert sein soll, als HomosexualitĂ€t als fĂŒr jedermann und jederfrau erstrebenswert darzustellen und massiv dafĂŒr zu werben, homosexuell zu werden.

Diese Lobby wird maßgeblich dafĂŒr verantwortlich gemacht, dass die American Psychiatric Association (APA) 1973 HomosexualitĂ€t aus dem Katalog psychischer Krankheiten gestrichen hat.

Jugendliche wĂŒrden dadurch in ihrer sexuellen Entwicklung massiv verunsichert und dazu ermuntert, sexuelle Praktiken auszuprobieren und schließlich homosexuell zu werden. Zugrunde liegt hier eigentlich die alte Theorie der VerfĂŒhrbarkeit zur HomosexualitĂ€t. Damit einher geht die Argumentation, dass HomosexualitĂ€t als eigenstĂ€ndige grundsĂ€tzliche Veranlagung gar nicht bestĂŒnde, sondern eine krankhafte psychische Störung darstelle, die behandlungsbedĂŒrftig sei, da sie auf frĂŒhkindliche Traumata der Eltern-Kind-Beziehung beruhe. Besonders das VerhĂ€ltnis zum Elternteil des gleichen Geschlechts sei bei Homosexuellen immer massiv gestört, was letztendlich das GefĂŒhl hervorbringe, bezogen auf die Merkmale des eigenen Geschlechts unzulĂ€nglich und minderwertig zu sein. Die Partnersuche folge dann dem unbewussten Wunsch, die emotionalen Defizite auszugleichen, die beispielsweise ein schwuler Mann durch die fehlende NĂ€he zu seinem Vater erfahren musste, sowie im Partner diejenigen positiven Eigenschaften des eigenen Geschlechts zu finden, die man an sich selber vermisse. Oft wĂŒrden sexueller Missbrauch oder negative EinflĂŒsse von Drogen dazukommen. Verweise auf einige psychologische Studien, die diese These zu untermauern suchen (Spitzer, Dreikorn, Shidlo/Shroeder, Yarhouse/Jones), sollen diesen Blick auf HomosexualitĂ€t wissenschaftlich legitimieren.

Denn allgemein ist folgender Trend zu bemerken: weg von rein religiöser Argumentation, weg von der Stigmatisierung der HomosexualitĂ€t als SĂŒnde, hin zu vorgeblich neutraler und objektiver Verwissenschaftlichung, um dadurch im politischen Kampf ein breiteres Gehör zu erlangen und vom Ruch des lediglich religiös motivierten Fundamentalismus wegzukommen. Und so versuchen evangelikale Einrichtungen wie das DIJG oder wuǝstenstrom, sich als kompetent in Sachen HomosexualitĂ€t darzustellen und damit politischen Einfluss zu gewinnen.

 [NB: Vielleicht ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, zu erfahren, wie Evangelikale selbst ihre eigene Haltung zur Politik im Allgemeinen darstellen: Friedhelm Jung sagt, die evangelikale Bewegung sehe sich prinzipiell als regierungstreu, da sie nach Römer 13,1 daran glaube, dass jede Regierung von Gott eingesetzt sei, um dem Leben und den Menschen einer Gesellschaft zu dienen. Allerdings fĂŒhlten sich Evangelikale auch im hohen Maße dazu verpflichtet, Regierungen an diesen Auftrag zu erinnern und den Schutz von Leben einzufordern. Da sie HomosexualitĂ€t als lebensfeindlich und schĂ€dlich fĂŒr die Gesellschaft sehen, drĂ€ngen sie diesbezĂŒglich auch sehr vehement in die Politik hinein.
Man könne allerdings auch mit der fortschreitenden Liberalisierung der deutschen Politik eine zunehmende politische Frustration der evangelikalen Bewegung feststellen, weil selbst die christlichen Parteien in ihren Augen nicht mehr am christlichen Menschenbild festhielten. Dass sich eine Partei wie die
Partei bibeltreuer Christen (PBC) grĂŒndete, sei eine Folge dieser Frustration, auch wenn diese Partei im deutschen Parteienspektrum keine nennenswerte Rolle spielt.]

Der wachsende Einfluss der Evangelikalen in der Politik ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Immer wieder ist zu hören, dass nach Europa zeitversetzt solche Entwicklungen herĂŒberschwappten, die in den USA schon lĂ€ngere Zeit im vollen Gange seien. Wenn dies stimmt, dann ist auch in Europa und Deutschland in Zukunft mit einem noch grĂ¶ĂŸeren Kampf von evangelikalen Organisationen zu rechnen, konservative Gesellschaftsbilder gegenĂŒber jedem Versuch zu verteidigen, ausreichend rechtliche Absicherungen und gesellschaftliche Akzeptanz fĂŒr Homosexuelle durchzusetzen.

Was hat es mit der so genannten „Homo-Lobby” auf sich?

Mein persönlicher Wunsch wĂ€re es, evangelikalen WortfĂŒhrern wie Christl R. Vonholdt einmal klar machen zu können, dass es dieser so oft ins Feld gefĂŒhrten militanten homosexuellen Lobby (welche die Gesellschaft so unselig im Griff haben und einen solch schĂ€dlichen Einfluss auf sie ausĂŒben soll) mitnichten darum geht, HomosexualitĂ€t in der Gesellschaft weiter zu verbreiten („Homosexualisierung der Gesellschaft”) oder die traditionelle Ehe und Familie abzuschaffen oder in ihrem Ansehen zu verunglimpfen. Die BemĂŒhungen der Homosexuellenbewegung zielen lediglich darauf ab, denjenigen Menschen, die tatsĂ€chlich betroffen sind, ein angstfreies, unbedrĂ€ngtes und gesellschaftlich geachtetes Leben zu ermöglichen, um Ursachen enormer psychischer Belastungen und Bedrohungen zu verringern, die tatsĂ€chlich krank machen können. Es geht nicht darum, fĂŒr eine Gesellschaftsgruppe Rechte auf Kosten anderer Gesellschaftsgruppen durchzusetzen.

Eigentlich muss von einer toleranten Haltung gegenĂŒber HomosexualitĂ€t keine negative Wirkung fĂŒr die Gesellschaft ausgehen. Was hat man denn zu befĂŒrchten? Jeder Mensch, der sich seiner sexuellen IdentitĂ€t vollkommen sicher ist, wird diese nicht einfach Ă€ndern, weil eine andere sexuelle IdentitĂ€t positiv bewertet wird. Das Heraufbeschwören einer Homosexualisierung der Gesellschaft erscheint mir schlicht absurd.

Allgemein ist in unserer Medienwelt eine Sexualisierung in Kunst, Werbung und Journalistik zu beobachten. HeterosexualitÀt ist allgegenwÀrtig, oft auch sehr aufdringlich. Dennoch bleiben Homosexuelle homosexuell. Warum sollte HeterosexualitÀt durch einen sichtbar normalen Umgang mit HomosexualitÀt gefÀhrdet sein?

Es gab innerhalb der HuK eine Zeit lang die erwĂ€hnte Arbeitsgruppe Evangelikale und Wir, der auch ich angehörte. Ziel der Gruppe war, mit fĂŒhrenden Evangelikalen ins GesprĂ€ch zu kommen, nicht ĂŒbereinander, sondern miteinander zu sprechen, gegenseitige Vorurteile abzubauen und dadurch aus dem Teufelskreis von Schlammschlachten auszubrechen.
Die wenigsten der Angeschriebenen reagierten auf unser GesprĂ€chsangebot. Die meisten lehnten GesprĂ€che ab, auch Frau Vonholdt. Die BegrĂŒndung war, man habe eine Haltung zu HomosexualitĂ€t, ein Wissen, ein GesprĂ€ch mit uns sei fĂŒr sie nicht interessant.

Ich muss deutlich sagen, dass ich eine selbst ernannte Expertin in Sachen HomosexualitĂ€t nicht akzeptieren oder ernst nehmen kann, die sich dem GesprĂ€ch mit Homosexuellen, die ihrem Bild von HomosexualitĂ€t widersprechen, verweigert. Die Gesellschaftsschicht der Homosexuellen ist ebenso vielschichtig wie diejenige der Evangelikalen. Wenn man sich nur mit psychisch kranken Homosexuellen auseinandersetzt (und rundweg davon ausgeht, dass die homosexuelle Veranlagung selbst der Grund fĂŒr die psychische Erkrankung ist), wenn man bewusst ausblendet, dass es eine homosexuelle Lebenswirklichkeit jenseits dieses Bildes gibt, dann erinnert mich das an Platos Höhlengleichnis, bei dem die Höhlenmenschen, in ihrem Erdloch hockend, die Schatten der Wesen außerhalb der Höhle, so wie sie drinnen an die Wand geworfen werden, als absolute RealitĂ€t wahrnehmen und von der tatsĂ€chlichen RealitĂ€t draußen keine Ahnung haben.

Um nochmals auf die so genannte Homosexuellenlobby zurĂŒck zu kommen: Valeria Hinck fragt, wie es denn ĂŒberhaupt dazu kommen könne, dass eben jene Homosexuellen, die von Evangelikalen und den von ihnen angefĂŒhrten psychologischen Studien immer wieder als psychisch krank, schwach, emotional verkrĂŒppelt, in Ich-Bezogenheit verstrickt hingestellt werden, sich auf der anderen Seite zu einer solchen machtvollen und politisch einflussreichen Bewegung formierten. MĂŒsste es sich dann nicht doch um eine sehr gesunde, kraftvolle, zur Vernetzung und Zusammenarbeit fĂ€hige Gruppe handeln, die es bewerkstelligen kann, internationale Fachleute, Mediziner, Psychologen, Soziologen, Politiker derartig zu beeinflussen, dass durch diesen Lobbyismus allein im Jahr 1973 HomosexualitĂ€t von der Liste der psychischen Erkrankungen gestrichen wurde und heute in zahlreichen LĂ€ndern das Bewusstsein wĂ€chst, Homosexuelle nicht weiter stigmatisieren zu dĂŒrfen und auch fĂŒr ihr Leben verlĂ€ssliche rechtliche Rahmenbedingungen schaffen zu mĂŒssen? Können derartig „kranke” Wesen tatsĂ€chlich eine solch große Kraft entwickeln und einen solchen Druck auf die „gesunde” Bevölkerung ausĂŒben? Ein guter, kluger Einwand, wie ich finde!

Ist HomosexualitÀt therapierbar?

NatĂŒrlich bleibt die Frage, was es denn nun mit den erwĂ€hnten Studien, mit den wissenschaftlichen Argumenten evangelikaler Organisationen, mit der Therapierbarkeit von HomosexualitĂ€t auf sich hat.

Es gibt in den USA eine sehr große Ex-Gay-Bewegung mit vielen Selbsthilfegruppen, die alle von evangelikalen Organisationen initiiert werden. Therapie außerhalb eines religiösen Kontextes findet nicht statt! Zu erwĂ€hnen ist die Organisation Desert Stream, und zwar deshalb, weil sie fĂŒr die wichtigste derartige Einrichtung in Deutschland das Vorbild ist: Dies ist wuǝstenstrom e. V. in Tamm bei Ludwigsburg. Unter der Leitung von Markus Hoffmann, einem ehemaligen Schwulen, der nach eigenen Aussagen glĂŒcklich mit einer Frau verheiratet ist und in einer heterosexuellen Familienstruktur lebt (was ich ihm nicht absprechen möchte!), berĂ€t und betreut wuǝstenstrom Menschen, die in irgendeiner Weise mit ihrer SexualitĂ€t Probleme haben. Der Hauptschwerpunkt liegt bei der Therapie von Homosexuellen, die ihre HomosexualitĂ€t als konflikthaft, als nicht zu sich selbst gehörend (ich-dyston) erleben und u. U. davon loskommen wollen.

Um es vorwegzunehmen: ich nehme es durchaus sehr ernst, dass es Menschen gibt, die von ihrer HomosexualitĂ€t loskommen wollen, die unter ihr leiden. Dabei frage ich mich allerdings, ob die Unzufriedenheit bis zum Selbsthass, welche diese Menschen verspĂŒren, aus der Veranlagung an sich resultiert, oder aus der Kritik gegenĂŒber einem homosexuellen Lebensstil, der abgelehnt wird. Wurde der Selbsthass etwa durch religiöse SchuldgefĂŒhle von außen in diese Menschen hineingetragen?

Ich bin davon ĂŒberzeugt, dass eine vollstĂ€ndige VerĂ€nderung von HomosexualitĂ€t zu HeterosexualitĂ€t (oder auch in die andere Richtung) nicht möglich ist. Eine Konversionstherapie kann wohl der eigentlichen IdentitĂ€t lediglich eine Maske vorsetzen und helfen, GefĂŒhle so weit wie möglich zu unterdrĂŒcken, die aber weiterhin latent vorhanden sind. Möglich scheint mir lediglich, die Entscheidung von Bisexuellen zu unterstĂŒtzen, nur eine Seite der SexualitĂ€t tatsĂ€chlich ausleben zu wollen.

Sinnvoll wĂ€re in jedem Fall, wenn eine Therapie nicht von vornherein wĂŒsste, in welche Richtung sie gehen sollte. Evangelikale Therapien stehen aber in der Regel unter der (religiös motivierten) PrĂ€misse, dass gelebte HomosexualitĂ€t SĂŒnde ist und es besser wĂ€re, sich von ihr loszusagen. Dabei könnte man jemandem, der z. B. eine zu starke Betonung des Sexuellen in der Schwulenszene abstoßend findet aber diesbezĂŒglich vielleicht ein Suchtverhalten aufgebaut hat, durchaus helfen, eine verantwortungsvolle homosexuelle Beziehung aufzubauen und zu unterhalten.

Man mĂŒsste ihn nicht grundsĂ€tzlich vom Schwulsein „befreien”, sondern könnte ihm verstĂ€ndlich machen, dass es die konkreten Handlungen sind, die darĂŒber entscheiden, ob man sich mit dem, was man aus seiner Veranlagung macht, gut oder schlecht fĂŒhlt. Man könnte mit einem Klienten zu ergrĂŒnden versuchen, ob er tatsĂ€chlich an der Veranlagung an sich oder vielmehr an gesellschaftlichen Situationen leidet, die ihm zusetzen, und ihm in diesem Fall helfen, sich vom Ă€ußeren Druck zu befreien.

Auch wenn wuǝstenstrom erklĂ€rt, ergebnisoffen zu arbeiten, ist immer wieder festzustellen, dass sich deren Aussagen widersprechen, je nachdem, ob versucht wird, neutralen Medien gegenĂŒber die SeriositĂ€t der eigenen Arbeit zu demonstrieren, oder ob in system-immanenten Medien „Tacheles” geredet wird. Da spĂŒrt man von dieser Ergebnisoffenheit leider wenig!

Im Gegenteil gewinnt man bei solchen internen Äußerungen ĂŒberhaupt den Eindruck, dass all die objektiven wissenschaftlichen Argumente gegen HomosexualitĂ€t letztlich nur vorgeschĂŒtzt sind, um von der Politik als glaubwĂŒrdig wahrgenommen zu werden. Der Hauptgrund fĂŒr das Engagement gegen gelebte HomosexualitĂ€t scheint hier eben doch aus religiösen Überlegungen zu resultieren. Aber damit ist natĂŒrlich in einem sĂ€kularisierten Staat kein Staat zu machen.

Deshalb rĂŒcken die besagten Studien in den Blickpunkt, die beweisen sollen, dass HomosexualitĂ€t heilbar und mithin eine Krankheit sei; die darstellen, wie sehr Homosexuelle unter ihrer Veranlagung litten, wie hoch Gewalt- und Selbstmordraten bei Homosexuellen ausfielen. Nun findet sich fĂŒr jede auch noch so abstruse These eine wissenschaftliche Studie, durch welche ihr Beweis möglich scheint (man denke an die Studien, die beweisen sollten, dass der Holocaust nicht stattgefunden haben kann). Entscheidend ist letztendlich, mit welchen Methoden eine Studie durchgefĂŒhrt wurde, wie das Zustandekommen ihrer Ergebnisse durchsichtig gemacht wird, wie aussagekrĂ€ftig tatsĂ€chlich die ausgewerteten Daten sind. Jedenfalls reklamieren Protagonisten der Konversionstherapie, seien es Markus Hoffmann, Christl Vonholdt oder der amerikanische Therapeut Richard Cohen, ebenfalls selbst ein bekennender Ex-Gay, fĂŒr sich, tausende von Menschen auf dem Weg von Homo- zur HeterosexualitĂ€t erfolgreich begleitet zu haben. AuffĂ€llig ist dahingegen, dass die Studien, die zum Beweis der Therapierbarkeit angefĂŒhrt werden, allesamt Probleme hatten, genĂŒgend Probanden zusammen zu bekommen, damit wirklich eine statistische Beweiskraft entstehen konnte. Die Dreikorn-Studie etwa verkĂŒndet selbstbewusst, dass 73% der befragten MĂ€nner angaben, nach einer Konversionstherapie seien ihre „homosexuellen KĂ€mpfe deutlich verringert oder nicht mehr vorhanden”. Die amerikanische Organisation Alliance for Therapeutic Choice and and Scientific Integrity (frĂŒher agierend unter dem Namen National Association of Research and Therapy of Homosexuality NARTH), die von Dr. Joseph Nicolosi, einem der fĂŒhrenden Psychologen der Ex-Gay-Bewegung, geleitet wird, folgert daraus vollmundig, die Studie lege nahe, „dass die VerĂ€nderung zu einer heterosexuellen Orientierung sicherlich möglich ist fĂŒr manche, wenn nicht fĂŒr alle homosexuellen MĂ€nner.” Das Problem: Dieser Studie liegen sage und schreibe die Aussagen von 15 MĂ€nnern zugrunde!

Die anderen Studien weisen geringfĂŒgig höhere Probandenzahlen auf, doch ist es schlichtweg erstaunlich, dass evangelikale Vereinigungen, die solche Studien in Auftrag geben, um ihre Arbeit zu legitimieren, trotz der oft ins Feld gefĂŒhrten Tausenden von erfolgreichen Therapien es nicht schaffen, fĂŒr diese Studien eine aussagekrĂ€ftige Anzahl von Teilnehmern zu motivieren, die glaubhaft machen können, ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum nach ihrer Therapie dauerhaft von homosexuellen Gedanken und GefĂŒhlen befreit worden zu sein.

Im vorzĂŒglichen Aufsatz Wie allwissend ist Wissenschaft im Namen des AllmĂ€chtigen? legt die lesbische Ärztin Valeria Hinck, die selbst aus einem evangelikalen Hintergrund kommt, minutiös dar, wie wichtig es ist, bei wissenschaftlichen Studien gewissen Bedingungen peinlich genau GenĂŒge zu leisten und deren Methoden durchsichtig offen zu legen, um wirklich brauchbare und aussagekrĂ€ftige Ergebnisse zu erhalten.

Wenn man die von Evangelikalen angefĂŒhrten Studien untersucht, muss man aber zu dem Ergebnis kommen, dass sie eben nicht wirklich aussagekrĂ€ftig sind. Dasselbe wird natĂŒrlich auch auf der Gegenseite von Studien behauptet, die die Wirksamkeit von Konversionstherapien anzweifeln. Es ist also in jedem Fall besser, nicht einer blinden StudienglĂ€ubigkeit zu verfallen.

Auch hier zur Klarstellung: Ich glaube einem „bekehrten Homosexuellen” durchaus, wenn er sagt, dass er sich in seiner heterosexuellen Ehe glĂŒcklicher fĂŒhlt als in seinem Leben als homosexueller Mann. Ich streite ihm das Recht nicht ab â€“ habe nicht das geringste Recht dazu! â€“ so zu leben, wie er es fĂŒr sich als richtig und sinnstiftend erachtet. Ich wage aber zu behaupten, dass die Probleme mit seiner HomosexualitĂ€t wahrscheinlich aus einem schlechten Gewissen resultieren, welches ihm sein religiöses Denken und sein soziales Umfeld eingeimpft hatten. Ich kann mir vorstellen, dass von dieser Seite der Druck nun weggefallen sein kann, weil dieser Mensch nun gesellschaftlich „richtig” funktioniert, und dass dadurch tatsĂ€chlich ein Empfinden von Besserung entstanden sein mag. Aber was ist mit dem Rest innerer Druck, gegen die eigene Natur zu leben, der sich immer mal melden kann, auch wenn diese Impulse tatsĂ€chlich dauerhaft unterdrĂŒckt werden können?

Ich wage zu behaupten, dass es sich auf der anderen Seite hĂ€tte gelohnt haben können, daran zu arbeiten, den Ă€ußeren Druck abzubauen, den Glauben und die SexualitĂ€t miteinander zu versöhnen und einen Weg zu suchen, die SexualitĂ€t so zu gestalten, dass sie ihm auch nach seinen christlichen MaßstĂ€ben lebenswert erschienen wĂ€re.

Evangelikale Organisationen scheinen aber gerade diese Option generell nicht zu kennen. Im Gegenteil wird eben recht deutlich gemacht, dass sie die Meinung vertreten, es wÀre am besten, wenn jede/r Homosexuelle, aber auf jeden Fall jede/r, der/die sich zu Recht Christ nennen möchte, geradezu die moralische Verpflichtung hat, eine VerÀnderung der eigenen sexuellen Orientierung zu versuchen.

Dazu kommt, dass es in der Psychologie als Grundsatz gilt, Psychotherapie nicht mit weltanschaulichen, also auch religiösen Gedanken und Leitlinien zu verquicken. Das wird allgemein geradezu als gefĂ€hrlich angesehen. Dies geschieht bei diesen Therapien aber in einem hohen Maße, und so stellen sich immer wieder Bauchschmerzen ein, wenn man von den Methoden solcher Therapeuten hört oder liest, zumal, wenn sie keine professionelle therapeutische Ausbildung vorweisen können, sondern, wie das oft der Fall ist, Laienseelsorger sind, die aufgrund ihres evangelikalen Hintergrundes sich selbst einmal von ihrer gelebten HomosexualitĂ€t losgelöst hatten (man sehe dazu etwa Videos ĂŒber den amerikanischen „Therapeuten” Richard Cohen, wie man sie bei Youtube finden kann). Auch der Grundsatz, dass ein Therapeut nicht seine eigene Geschichte in eine Therapie einfließen lassen sollte, scheint so stark gefĂ€hrdet, weshalb man doch eher vor evangelikalen Therapieangeboten warnen muss.

Außerdem sei darauf hingewiesen, dass es neben der großen Ex-Gay-Bewegung durchaus auch eine beachtliche Ex-Ex-Gay-Bewegung gibt, in welcher sich immer mehr Menschen versammeln und teilweise auch artikulieren, die sagen, dass sie durch solche Therapien keine oder nur sehr kurzfristige VerĂ€nderungen ihrer GefĂŒhle erfahren haben und unter UmstĂ€nden sogar mit grĂ¶ĂŸeren psychischen SchĂ€den aus der Therapie herausgekommen sind, als sie hineingegangen waren.

In jedem Fall muss gelten, Menschen, die ihre HomosexualitĂ€t ablegen wollen, ernst zu nehmen, ihnen solche Therapien vielleicht nicht zu verbieten, ihnen aber doch genĂŒgend Information und Hilfe anzubieten, damit sie die Alternativen dazu kennen und tatsĂ€chlich die Chance bekommen, ihren Problemen konstruktiv auf den Grund zu gehen, so dass sie gestĂ€rkt und gereift aus ihrer konflikthaft erlebten GefĂŒhlswelt herauskommen. Und auf keinen Fall darf es evangelikaler Politik gelingen, ihre Theorie einer erneuten Pathologisierung und generellen Therapierbarkeit von HomosexualitĂ€t allgemein durchzusetzen.

Ausblick

Ich möchte zum Schluss kommen, der trotz all dieser Sorgen auch versöhnlich sein soll: Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass es mir und â€“ ich meine, das sagen zu können â€“ der HuK als Organisation nicht darum geht, bestimmte Glaubensrichtungen, Formen von Frömmigkeit, Stile, Gottesdienste zu feiern usw. zu kritisieren oder an den Pranger zu stellen. Genauso, wie ich erwarte, dass mir niemand vorwirft, meine Art, Glauben zu leben sei minderwertig, weil sie bestimmten Normen vielleicht nicht entspricht, möchte ich anderen nicht vorhalten, sie glaubten falsch oder zögen die falschen SchlĂŒsse aus ihrem Glauben, nur weil mir vieles fremd vorkommt, nicht nachvollziehbar ist. Ich glaube, dass es sehr unterschiedliche Wege geben kann, sich Gott zu nĂ€hern, und dass diese ihm auch alle gefallen können.

Also: eine evangelikale Art der besonders persönlichen Gottes- und Jesusbeziehung imponiert mir durchaus auch sehr!

Ich wĂŒrde nur sehr gerne dafĂŒr werben können, dass diese nicht dazu fĂŒhren muss, sich mit dem GefĂŒhl, besser und richtiger zu glauben als nicht-evangelikale Christen, von der christlichen Gemeinschaft abzusondern. Diese Art von Überheblichkeit, die leider immer wieder festzustellen ist, kann meines Erachtens von Jesus nicht gewollt sein.

Dass es aber durchaus möglich sein kann, im evangelikalen Sinn einen bestimmten Frömmigkeitsstil zu leben, die Bibel als reales Wort Gottes zur Grundlage des eigenen Glaubens zu machen, dabei aber nicht nur selektiv irgendwelche Bibelstellen herauszupicken und mit ihnen um sich zu schlagen, sondern auch den WidersprĂŒchen der Bibeltexte nachzuspĂŒren und sie miteinander ernsthaft in einen Kontext zu bringen â€“ dies alles zeigt sich mir in einer Gruppe wie Zwischenraum: Diese hat sich vor Jahren in Deutschland und der Schweiz gegrĂŒndet, um homosexuellen Christinnen und Christen mit einem evangelikalen Hintergrund â€“ und davon gibt es gar nicht so wenige! â€“ eben jenen Raum zu bieten, in welchem sie all das, was ihren Glauben ausmacht, gemeinsam leben und feiern können, ohne ihre HomosexualitĂ€t leugnen zu mĂŒssen.

Denn auch, wenn der Grat manchmal sehr schmal ist, welcher Evangelikales Denken in christlichen Fundamentalismus umkippen lĂ€sst: Evangelikale sind nicht per se Fundamentalisten. Und Evangelikale können mit ihren speziellen QualitĂ€ten durchaus eine Bereicherung fĂŒr das christliche Leben sein, können uns eine Ernsthaftigkeit des Glaubens bei gleichzeitiger Freude und Lebendigkeit der SpiritualitĂ€t aufzeigen, die andernorts vielleicht gerade mitunter fehlen mögen. Sie sollten aber nur nicht vergessen, dass Jesu Gebot der NĂ€chstenliebe nicht vor der eigenen HaustĂŒr und bei der eigenen Lebenserfahrung aufhören sollte. Und sie sollten dazu bereit sein, ĂŒber Menschen, deren Lebenserfahrungen und Glaubensinhalte sie nicht teilen, nicht einfach blind hinweg zu urteilen, sondern Angebote, miteinander ins GesprĂ€ch zu kommen und aufeinander zuzugehen, um sich gegenseitig besser verstehen zu können, anzunehmen. Das jedenfalls ist mir in meinem GlaubensverstĂ€ndnis eine immer wieder einzugehende Verpflichtung.

Quellen/Literatur:

  • Hinck, Valeria: Streitfall Liebe – Biblische PlĂ€doyers wider die Ausgrenzung homosexueller Menschen, MĂŒnchen 2003
  • dieselbe: Wie allwissend ist Wissenschaft im Namen des AllmĂ€chtigen?, unter www.zwischenraum.net/allmaechtigewissenschaft.htm
  • idea e. V. (Hrsg.): Was ist bibeltreu? Eine Standortbestimmung beim Gnadauer Theologischen Forum, idea-dokumentation Wetzlar 2003
  • Jung, Dr. Friedhelm: Was ist evangelikal?, idea-dokumentation Wetzlar 2007
  • Schnabel, Eckhard J.: Sind Evangelikale Fundamentalisten?, Holzgerlingen 2006